Die österreichische Fachzeitschrift „Verkaufen“ veröffentlicht in jeder Ausgabe eine Fallstudie – eine fiktive Geschichte, die so aber durchaus auch in der Praxis passieren kann. Experten geben dann einen fachlichen Rat, wie die Person in der Fallstudie besser reagieren könnte. Ich habe mich sehr gefreut, als mich eine Redakteurin des Magazins vor einigen Wochen bat, einen solchen Expertentipp zu verfassen. Es geht dabei um einen ratlosen Vertriebsleiter, der nicht genau weiß, wie weit er sich in die Arbeit seiner Mitarbeiter einmischen soll.

Cover der Zeitschrift "Verkaufen"

Aber lesen Sie doch selbst:

Fallstudie: Weniger ist mehr?

(Text von Ulrike Putz, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags)

Peter Pauer hatte großes Vertrauen in sein Vertriebsteam. Sie machten ihre Sache gut, beschwerten sich ab und zu über zu viel Kontrolle. Da alles so gut lief, war dies für ihn ein Zeichen, dass er sich zurückziehen und ihnen freie Hand lassen konnte. Feine Sache, dachte er sich. Doch seine Mitarbeiter sahen das anders. Nun musste er sich mangelndes Engagement vorwerfen lassen.

Halbzeit. Peter Pauer saß in seinem Büro und blätterte den Kalender um. Er konnte es nicht fassen, das halbe Jahr war bereits um und es standen wieder die halbjährlichen Mitarbeitergespräche an. Der Vertriebsleiter zog den Stehkalender näher heran und ging die Termine durch, die er mit seinen Vertrieblern schon zu Jahresbeginn vereinbart hatte. Montag zwei, Dienstag drei, Mittwoch ebenfalls drei und Donnerstag zwei – acht Gespräche standen in dieser Woche an. Peter Pauer wischte sich den Schweiß von der Stirn und schimpfte gedanklich auf die Klimaanlage, die ihre Arbeit nicht so tat, wie sie sollte. Es würde eine anstrengende Woche werden – und die Wettervorhersage hatte Temperaturen jenseits der 30 Grad-Marke angesagt.

Trotz etlicher Schweißperlen auf seiner Stirn öffnete Peter Pauer die Umsatzprotokolle und Entwicklungsstatistiken seiner Verkäufer. Im Großen und Ganzen kannte er die Zahlen. Eigentlich lief ja alles gut. Eigentlich waren sie auf Kurs. Zumindest bisher. Der Vertriebsleiter musste sich eingestehen, dass die Umsatzentwicklung nicht ganz so verlaufen war, wie er das geplant hatte. Das ließ weitere Schweißperlen auf seine Stirn treten. Sie hinkten ein bisschen hinterher. „Nicht so schlimm, das schaffen wir noch“, versuchte er sich selbst zu beruhigen. Was ihm jedoch nicht so ganz gelang. Diese Situation war neu für ihn. Bisher waren sie in der Erreichung ihrer Ziele immer voraus gewesen. Er war gespannt, was sein Team nächste Woche dazu sagen würde.

Als er das Büro verließ, betete er, dass die Klimaanlage am Montag doch wieder funktionieren möge.

Mitarbeitergespräche

Gut gelaunt kam Peter Pauer am Montagmorgen ins Büro. Schon als er die Tür öffnete, schlug ihm ein Hitzeschwall entgegen. „Na eh klar, die Klimaanlage funktioniert natürlich immer noch nicht“, murrte er in seinen nicht vorhandenen Bart. In der Küche füllte er sogleich einen großen Krug mit Wasser. Auf dem Weg zurück in sein Büro traf er auf Michael Weger. „Guten Morgen, Herr Weger!“, begrüßte er ihn freudig. „Wir sehen uns um zehn?“ Michael Weger erwiderte den Gruß und bestätigte den Gesprächstermin nicht ganz so enthusiastisch. Schulterzuckend ging Peter Pauer zurück in sein Büro und bereitete alles für das erste Mitarbeitergespräch der Woche vor.

Um elf Uhr acht verließ Michael Werger Peter Pauers Büro und ließ den Vertriebsleiter schweißgebadet und ziemlich verwundert darin zurück. Der Verkäufer hatte ihm erklärt, dass er sich in diesem Jahr von seinem Vertriebsleiter etwas alleingelassen fühlte. „Es tut mir leid, wenn ich Ihnen das jetzt so sage, aber ich habe manchmal den Eindruck, Sie wissen gar nicht, was jeder Einzelne von uns denn eigentlich so tut, wie es bei uns läuft, oder vielleicht auch nicht läuft. Als würden Sie sich nicht mehr dafür interessieren“, brachte Michael Weger hervor. Überrascht hatte sich der Vertriebsleiter diese Aussagen notiert.

Nach dem Mittagessen stand das zweite Mitarbeitergespräch auf der Agenda. Melanie Mairhoff setzte sich mit einer Tasse Kaffee zu ihm an den Besprechungstisch. Auch dieses Gespräch verlief in ähnlichen Bahnen. Frau Mairhoff fehlte der Austausch, das gemeinsame Status-Update, wo sie als Team und die einzeln Verkäufer gerade standen. „Ich habe es immer sehr gut gefunden, dass wir uns zusammengesetzt haben und jeder erzählt hat, wie es bei ihm läuft, welche Erfolge er erzielt hat, wo mal was nicht so gut geklappt hat. Und dass wir uns gegenseitig Tipps gegeben und unsere Erfahrungen ausgetauscht haben. Wenn wir das nicht mit Ihnen regelmäßig machen, kommt das zu kurz, sowas geht im Tagesgeschäft dann einfach unter. Früher habe ich mich dadurch stärker mit dem Team verbunden gefühlt“, erzählte Melanie Mairhoff. Interessiert nahm der Vertriebsleiter das Gehörte zur Kenntnis und machte sich auch hier genaue Notizen.

 

Dieser Montag hatte ihm zu schaffen gemacht. Erledigt machte er sich am späten Nachmittag auf den Nachhauseweg. Erleichtert löste er die Krawatte und knöpfte den obersten Hemdknopf auf. Im klimatisierten Auto ließ er die beiden ersten Gespräche noch einmal Revue passieren. War es ein Zufall, dass sowohl Michael Weger als auch Melanie Mairhoff ähnliche Kritikpunkte vorgebracht hatten? Es stimmte schon, er hatte sich in den letzten Monaten verstärkt auf seine eigenen Kunden konzentriert und seinem Vertriebsteam weitgehend freie Hand gelassen. Doch seine Verkäufer waren ein eingespieltes Team, das seit Jahren gut funktionierte und hervorragende Ergebnisse ablieferte, warum sich also nicht etwas herausnehmen und die Verkäufer ihre Arbeit machen lassen, zumal sie doch immer wieder die Nase gerümpft hatten, wenn er ihnen quasi auf die Finger schaute? Naja, er würde ja sehen, was die nächsten Tag so bringen würden.

O-Töne

Wieder war Freitag. Peter Pauer war froh, dass die Woche vorbei war – und es ein wenig abgekühlt hatte. Doch nicht nur die Hitze hatte ihn in den letzten Tagen ins Schwitzen gebracht, auch die Aussagen seiner Verkäufer trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. In Jeans und Hemd saß er nun am casual friday in seinem Büro und ging seine Notizen noch einmal durch. Alle acht Verkäufer hatten nahezu dasselbe gesagt.

Sogar ihr neuestes Teammitglied, Verena Sommer, hatte – nach eindringlichen Beteuerungen, dass es vollkommen in Ordnung und erwünscht war, darüber zu sprechen – zugegeben, dass sie sich in diesem Jahr von ihrem Vorgesetzten vernachlässigt fühlte. „Ich hätte mir mehr Feedback gewünscht. Mir ist nicht ganz klar, wohin ich mich entwickeln, woran ich weiter arbeiten soll“, hatte sie zugegeben.

Peter Pauer blätterte in seinen Aufzeichnungen: die Erwartungen sind zu vage formuliert; ich weiß nicht, worauf ich meine Prioritäten legen soll; wir bekommen zu wenig Informationen von Ihnen; wir tauschen uns nicht mehr genug aus; keiner weiß genau, wo wir stehen; mir fehlen Etappenziele; mir ist unklar, was von mir erwartet wird; ich weiß nicht, wohin ich mich entwickeln soll; ich bekomme kein Feedback zu meiner Arbeit; Sie bieten zu wenig Unterstützung beim Erreichen der Ziele; ich habe das Gefühl, dass Sie nicht wissen, was in der Abteilung vor sich geht; Sie bekommen nichts von der Stimmung im Team mit; es wird zu wenig kommuniziert – so lauteten die O-Töne seiner Verkäufer. Und die Liste ließe sich noch fortsetzen.

Konsequenzen

Dies nun alles auf einmal, schwarz auf weiß vor sich zu sehen, erschreckte Peter Pauer. Das hätte er nicht gedacht. Er hatte immer geglaubt, er hätte ein gutes Gespür für seine Mitarbeiter, dem war anscheinend nicht ganz so. Er hätte eher damit gerechnet, dass sein Verkäuferteam es begrüßen würde, weniger Zeit in Besprechungen zu verbringen und nach laissez faire weitgehend frei arbeiten zu können, hatte er doch in der Vergangenheit die eine oder andere Beschwerde über zeitraubende Meetings und zu viel Kontrolle zu Ohren bekommen. Darum hatte er Anfang des Jahres beschlossen, die Zügel lockerer zu lassen, sich weniger einzumischen, weniger Zeit mit Meetings und Kontrollen zu verbringen. Er hatte mit seinen Verkäufern Ende letzten Jahres gemeinsam ihre Jahresziele für 2015 erarbeitet und definiert.

Das letzte halbe Jahr hatte er sie einfach machen lassen, ohne dies an die große Glocke zu hängen. Wenn sie ihn brauchen würden, wäre er ja da. „Sie wissen aber doch, dass Sie jederzeit zu mir kommen können, wenn Sie meine Unterstützung brauchen, egal wobei“, hatte er im Mitarbeitergespräch gefragt. Jeder seiner acht Verkäufer hatte dies auch bejaht. Doch diese Tatsache allein reichte offensichtlich nicht aus, um seinem Team zum einen das Gefühl zu geben, dass ihm keineswegs egal war, was jeder einzelne von ihnen leistete und wie es ihnen dabei ging, und andererseits ihnen soweit freie Hand zu lassen und sie nicht mit Meetings zu belasten, dass sie ihre Arbeit tun konnten – die sie ja auch wirklich gut machten. Wie sah der geeignete Mittelweg aus?

Weniger ist mehr? Mein Expertentipp in der Zeitschrift "Verkaufen"Der Expertenrat:

Die Antwort auf die Frage von Peter Pauer lautet: e = q*m. Das bedeutet, das Ergebnis (e) ist die Multiplikation der Qualität der vereinbarten Ziele (q) und der Motivation der Mitarbeiter (m). Peter Pauer hat seine Leute demotiviert und kann es daher nicht schaffen, gute Ergebnisse zu erreichen. Die Ursachen für die Demotivation der Mitarbeiter sind folgende:

1. Führen im falschen Reifegrad

Peter Pauer hatte sich die Kritik seiner Mitarbeiter, die sich zu stark kontrolliert fühlten, zu Herzen genommen und beschloss, sie freier agieren zu lassen. Damit wechselte Pauer in seinem Führungsstil von Reifegrad 1 zu Reifegrad 4, zum Laissez-faire- oder Delegieren-Stil. Er hat hier den Fehler gemacht, dass er direkt von 1 auf 4 gewechselt ist. Stattdessen hätte er von Reifegrad 1 auf 2 oder 3 gehen können, also hin zu einer stärkeren Partizipation der Mitarbeiter. Damit hätte er ihnen mehr Freiheiten gegeben, aber den Kontakt nicht verloren.

2. Fehlende konkrete Detailziele

Vor allem Verena Sommer, die noch nicht lange im Team ist, hat angemerkt, dass sie nicht genau weiß, was von ihr erwartet wird. Das ist ein schwerer Fehler. Jeder Mitarbeiter braucht Detail-Ziele, sodass er jederzeit weiß, was ganz konkret von ihm erwartet wird.

3. Fehlendes Feedback zur Sicherstellung des richtigen Vorgehens für die Mitarbeiter

Es reicht nicht, dass Peter Pauer seinen Mitarbeitern sagt, dass er ihnen bei Problemen unterstützend zur Seite steht. Nein, er muss ganz konkret nachfragen, wie es denn läuft. Ein Grundprinzip ist dabei: Ein Mitarbeiter braucht etwa alle sieben Tage einmal Feedback von seiner Führungskraft.

4. Fehlende Transparenz über die persönliche Weiterentwicklung

Jeder Mitarbeiter möchte für sich persönlich wissen, wohin er sich entwickelt. Das gilt besonders für neue Mitarbeiter. Das geht nur, wenn Peter Pauer auch diese Ziele mit jedem Mitarbeiter konkret definiert und festlegt, was Weiterentwicklung für jeden Einzelnen bedeutet.

5. Fehlende Teamkommunikation zur Steigerung der persönlichen Effektivität

Die Mitarbeiter beklagen sich darüber, dass sie sich nicht miteinander austauschen können. Besonders für Außendienstmitarbeiter, die ständig alleine unterwegs oder im Home-Office sind, ist die regelmäßige Möglichkeit zum gegenseitigen Austausch unverzichtbar. Daher sollte Peter Pauer etwa alle vier Wochen seine Außendienstmannschaft zu einem Treffen zusammenrufen.

Quellenangabe: Putz, Ulrike: Fallstudie. Weniger ist Mehr? in: Verkaufen. Ihr Magazin für Erfolg im Vertrieb, 04/2015, S. 30-33.

Gerne können Sie den ganzen Artikel downloaden: Weniger ist mehr?

Hier geht es zur Online-Präsenz der Fachzeitschrift Verkaufen.